„Hast du schon aufgegeben oder bist du kurz vor der Kapitulation?“ Dies ist im Moment wohl die am häufigsten gestellte Frage bezüglich der Vorsätze für’s neue Jahr. An und für sich finde ich es ja eine gute Sache, dass sich Herr und Frau Schweizer persönliche Ziele setzen und sich dabei zumindest einmal im Jahr selber reflektieren und überlegen, in welchen Bereichen sie noch Potential für die höhere Liga hätten. Denn wenn ich meine Schülerinnen und Schüler nach ihren (Lebens-)Zielen frage, kommen meist nur ein grosses Schulterzucken und eine gähnende Leere. Aus einer Ecke höre ich dann doch noch „Millionär werden“, aus einer anderen „einmal nach Hawaii gehen“- aber sonst sind nur Stille, Atemgeräusche und ein runterfallendes Etui mit hundert Stiften drin zu hören. Dies stimmt mich nachdenklich, denn jeder von diesen Jugendlichen hat einen Startplatz unter den allerbesten Bedingungen auf dieser Welt bekommen und sie haben keine Ziele?
In Anbetracht dessen finde ich es also schon einmal sehr gut, nehmen sich die Erwachsenen Ziele für das neue Jahr vor. Aber muss es denn immer genau um den Jahreswechsel sein? Wieso nimmt man sich nicht die Ziele dann vor, wenn sie situativ perfekt passen würden? Denn dann könnten die Ziele etwas kleiner und realistischer sein, als einfach „ich will mit dem Rauchen aufhören“ oder „ich will diesen Sommer wieder eine Bikinifigur“. Sobald man nämlich merkt, dass man in einem Bereich ausufert, sollte man sich an der Nase nehmen, die ganze Situation mit einem Schritt zur Seite analytisch beurteilen und sich dann ein realistisches Ziel setzen. In meinen Augen dürfen diese Ziele auch ganz persönlich und geheim sein, aber sie müssen gut für sich selber ausgedeutscht, sprich eindeutig sein. Wer nämlich nur oberflächlich sagt „ich will mich beim Autofahren weniger ärgern“, der wird Mühe haben, sich tatsächlich weniger aufzuregen. Besser wäre es, sich vorzunehmen, dass man bei potentiellen Aggressions-Situationen innerlich immer auf 5 zählt und sich dabei auf die Atmung (und den Strassenverkehr) konzentriert, bevor einem vor lauter Rage fast die Halsschlagader platzt.
Auch wer merkt, dass er sich im letzten Monat fast nicht bewegt hat, der soll sich die neuen Bewegungs-Ziele sofort setzen und nicht noch 10 Monate bis zum Jahreswechsel damit warten. Denn glauben Sie mir, das Starten wird bestimmt nicht einfacher und auch die Atemnot wird sich mit jedem Monat Warten noch lauter bemerkbar machen.
Ein weiterer Punkt, der mich etwas kritisch stimmten lässt, ist die Tatsache, dass sich viele Menschen so riesige, fast übermenschliche Ziele setzen. Denn würden diese auch nur ansatzweise während längerer Zeit angestrebt werden, hätten wir lauter jung gebliebene, freundliche, schlanke, nichtrauchende und viel Zeit für die Familie und Freunde habende Mitmenschen. Stellen Sie sich einmal vor, nicht einmal Spitzensportler setzen sich solche Ziele. Athletinnen und Athleten haben wohl ein grosses Endziel vor dem geistigen Auge, aber die Ziele, die zu Beginn des Trainings oder während der Wettkampfsaison formuliert werden, sind in viele kleine Portionen aufgeteilt. Ich gebe Ihnen dazu gerne ein konkretes Beispiel aus meiner eigenen Vergangenheit:
Als ich in der 4. Klasse von der Schule nach Hause lief, traurig und gleichzeitig wütend war, weil mir wieder einmal 3 Jungs ihre mit extra viel Spucke abgeleckte Hand ins Gesicht klatschten, schwor ich mir, einmal die Stärkste von allen zu werden. Als ich dann mit 16 Jahren mit dem Schwingen anfing, war dieses Ziel als Endziel „Schwingerkönigin“ ganz weit hinten in meiner Planung zu erkennen. Dazwischen gab es Stationen mit „eine Kranzerin gewinnen“, „selber einen Kranz erkämpfen“, „einen Schlussgang erreichen“, „einen Schlussgang gewinnen“ und erst dann fasste ich konkret das Ziel „Schwingerkönigin“ ins Auge.
Auf all diesen Zwischenstationen gab es für mich Halt, neuen Elan und sprichwörtlich Schwung, um weiterzumachen. Diese Herangehensweise an ein Ziel ist auch bei den Neujahrsvorsätzen empfehlenswert, damit man diese umsetzen kann und man nicht von einer langanhaltenden und vor allem nicht durchstehbaren Durststrecke gepeinigt wird. Nehmen Sie sich nur kleine Schritte vor, die sie aber sofort umsetzen und vor allem ausnahmslos. Bei jedem Zwischenstopp dürfen Sie sich belohnen, sich wohlwollend auf die Schulter klopfen und am nächsten Tag mit dem neuen Level weitergehen. Sie werden sehen, wenn Sie sich ans Motto „kleine Ziele, dafür keine Ausnahmen“ halten, werden Sie es viel leichter haben auf diesem Weg. Und wie toll fühlt es sich denn an, wenn Sie Ihr Ziel mit Leichtigkeit und viel Freude erreichen dürfen? Ach, übrigens, hauen Sie sich gefälligst auf die Finger, wenn Sie eine auch nur so klitzekleine Ausnahme machen!
Vielleicht überlegen Sie gerade, ob wir Menschen im Leben immer Ziele brauchen? Ich denke schon und glaube, dass wir eine Ausrichtung brauchen, die uns Motivation, Struktur und Sinn ergibt. Denn wer planlos sein Leben (ver-)lebt, der kommt irgendwann an einen Punkt, an den er gar nicht hinwollte. Manchmal nimmt man sich auch Ziele vor, die man nach einiger Zeit überarbeitet, weil man merkt, dass das Ziel plötzlich keinen Sinn mehr macht, oder andere Sachen Priorität haben und einem mehr Seelenfrieden geben. Dann empfehle ich, den Mut zu haben, den Plan abzuändern und an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Denn was nützt einen die perfekte Bikini-Figur, wenn man dafür keine Zeit mehr für seine Liebsten hat, nur weil man die ganze Freizeit im Fitness-Center verbringt? Die perfekte Figur mag zwar viele Komplimente geben, aber ob das eine echte Zufriedenheit und innere Ruhe gibt, mag ich ab einer gewissen Reife bezweifeln.
Darf man Ziele auch nicht erreichen? Diese Frage finde ich schwierig zu beantworten, denn ich glaube, wer sich ein echtes Ziel setzt, der erreicht es auch. Und aus der Forschung ist ebenfalls bekannt, dass fehlendes Talent, in welchem Bereich auch immer, durch Fleiss und Motivation wettgemacht werden kann. Also belügt man sich wohl eher selber, wenn man ein Ziel nicht erreicht - weil man einfach nicht alles dafür gegeben hat. Um diesen Kreis zu schliessen, auch da noch ein letztes Beispiel aus meiner sportlichen Karriere: Hätte jemals irgendjemand daran geglaubt, dass ich mit 63 Kilogramm über 100 Kilogramm schwere Gegnerinnen bodigen kann? Wohl nicht - und als ich 20 Jahre alt war und die erste grosse Knieverletzung hinter mir hatte, hätte ich aufgeben können. Ich hätte sagen können, ich erreiche mein Ziel nicht und hätte einen guten Grund gehabt. Aber ich wollte diese Ausrede nicht, ich machte (schrittweise!) weiter, zog die nötigen Konsequenzen und stand 7 Jahre später zuoberst auf der Rangliste. Aufgeben kann also keine Option sein, wenn man etwas wirklich will. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Freude und Leichtigkeit bei ihren Zielsetzungen.
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