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Bote-Forum

Das wertvollste Jahr im Leben

Masterabschluss versus Muttersein, die Qualität macht den Unterschied

 

„Da die Schweiz keine wertvollen Bodenschätze hat und nicht an ein Meer grenzt, ist Wissen unser grösstes Kapital.“ Diese Worte stammten von meinem Geschichtslehrer, als ich noch im Gymnasium war. Es leuchtete mir ein, was er da sagte und ich verstand, warum sich die Schweiz mit Qualitätsprodukten durch Fachwissen und Fleiss international einen grossen Namen verschafft hatte. Ja, wir Schweizer durften in der Tat stolz sein auf unsere genauen Uhren, auf die beste Schokolade und auf unsere perfekt gepflegte Landschaft.

Ich war also auch gewillt, Teil dieser wichtigen Schweizer Kultur zu sein und büffelte Wissen in meinen Kopf, tagelang und auch nächtelang. Oftmals auch das gesamte Wochenende und die Ferien waren meine Pufferzone, in denen ich Latein-, Französisch, Englisch- und Italienischwörtchen repetierte und den Mathestoff zum wiederholten Male aufarbeitete. Letzteres sehr zum Leid meiner grossen Schwester, schliesslich verdonnerte ich sie zu meiner gratis Nachhilfelehrerin.

Irgendwann machte die ganze Sache mit dem Lernen, damit gelernt ist, nicht mehr so viel Sinn für mich: Was nützt es mir, wenn ich als sechzehnjährige für das Wort „Haus“ im Italienischen noch geschätzte 10 andere Hausbegriffe wie Doppeleinfamilienhaus, Reihenhaus und Eigentumswohnung für die Prüfung lernen musste, aber nie lernte, wie das Leben wirklich funktioniert? Auch nach der Matura wurden wir Studenten mit Leistungsnachweisen zugedeckt und wir sogen uns die längsten Sätze aus den Fingern, um auf die erwartete Anzahl Seiten zu kommen, die von uns verlangt wurden. Wie enttäuschend, wenn zehn Minuten nach der Abgabe der Dozent rückmeldete „Sie haben den Leitungsnachweis erfüllt“, denn ich wusste, dass meine 12-seitige Arbeit nie seriös gelesen wurde. Natürlich war das nicht immer der Fall, aber sehr viel Zeit musste ich einfach investieren, um die Vorgaben zu erfüllen. Wie oft dachte ich, wenn ich doch nur die Wohnung putzen könnte, so hätte ich heute wenigstens etwas Sinnvolles gemacht.

 

In meiner neuen Rolle als Mutter fühle ich mich ganz anders, denn alles, was ich mache, hat einen tieferen Sinn. Ich lerne, konzentriert an einer Aufgabe zu arbeiten, beispielsweise dem Mittagessen für mein Töchterchen. Schweife ich ab, habe ich sofort die Quittung, nämlich rabenschwarzes, nach Kohle riechendes Gemüse. Vergesse ich, ihr nach dem Heizen das Jäggli auszuziehen, habe ich ein Kind mit hochrotem Kopf, nass verschwitztem Haar und heissem Nacken. Ich lerne auch auf Knopfdruck kreativ und erfinderisch zu sein: Aus allem und jedem Gegenstand kann ich etwas Lustiges zum Spielen erfinden, ein Musikinstrument (besser gesagt „Lärminstrument“) basteln, ein kleines Gedicht aus dem Stegreif reimen oder die kurligsten Lieder erfinden und diese auch lauthals und kombiniert mit Hüftschwung singen, obwohl ich eigentlich weder singen noch tanzen kann. Ich lerne, dass mein Kind einen eigenen Rhythmus hat und wir als Familie sehr gut harmonieren, wenn ich auf diesen Rhythmus Rücksicht nehme. Kurz: Ich habe in einem Jahr gelernt, wie das Leben funktioniert und dass alles, was ich mache oder auch nicht mache, sofort Konsequenzen hat. Aus diesen Konsequenzen kann ich meine Lehren ziehen und mit grosser Begeisterung, Genugtuung und Freude auf das vergangene Jahr zurückblicken. Dieses Jahr hat mich nach meiner Empfindung reif und erfahren gemacht, weitsichtig, vorausschauend und trotzdem im Moment lebend. Ein Jahr, das für mich wertvoller ist als alle Schulstunden, denn hier lerne ich nicht für den Test, für die Lehrperson, für die Schule oder für einen zukünftigen Lehrmeister, hier lerne ich einfach nur für mich und mein Leben.   

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