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Hoch soll er leben

Am Sonntagabend, 28. August, um 17.00 wird er da sein. Auf den Schultern seiner Klubkameraden wird er sitzen und den über 50'000 Zuschauern vor Ort zujubeln. Voller Erleichterung und Freude über seine Meisterleistung in den vergangenen zwei Tagen wird er übermannt werden von seinen Emotionen. Er wird den tosenden Applaus, der in der Arena in Pratteln hochschiesst, nicht nur hören, sondern auch in seiner Brust spüren. Er ist der neue Schwingerkönig 2022.

 

Die ganze Schweiz wird den König von nun an kennen, er wird Einladungen an schöne Veranstaltungen bekommen und ihm werden Werbe-Angebote im sechsstelligen Bereich angeboten. Auf Plakaten, in Heftli und auf Lastwagen wird er abgebildet sein, er wird zig Autogramme schreiben und in verschiedenste Handys lachen. Kurz: Er wird ein Superstar sein und ein Vorbild für eine gesamte (Schwing-) Generation. Was er sagt, wird von nun an wichtig sein. Was er macht, wird kritisch begutachtet werden und wen er liebt, wird von nationalem Interesse sein.

 

Wer ist er? Giger, Reichmuth, Wicki oder doch Wenger oder Stucki? Er wird einer der 10–15 genannten Favoriten der Experten sein. Fast unmöglich, dass ein Outsider am Eidgenössischen obenaus schwingt. Für eine Spitzenleistung an einem der zwei ESAF-Tage wird auch ein Underdog sorgen können, aber das Eidgenössische hat seine eigenen Gesetze. Denn es dauert zwei Tage und insgesamt müssen acht Gänge bestritten werden. Als Athlet wirst du dir viel Wartezeiten um die Ohren schlagen müssen. Nur schon der Einmarsch am Samstagmorgen wird sich wie ein Jahrhundert anfühlen. Nach einem harten Zweikampf werden die Schwinger zwar Erholung benötigen, aber täglich viermal den Organismus von fast null auf hundert hochzufahren, ist eine Herausforderung. Wäre dies nur körperlich, ginge das vermutlich noch. Was viele vergessen, ist der Kopf, denn auch mental geschieht in diesen Athleten Unglaubliches.

 

Diese mentale Geschichte beginnt aber nicht erst mit dem ersten Gang, sondern bereits Monate davor. Wirst du als Favorit gehandelt, musst du zuerst mit den Erwartungen und dem Druck, den du zu spüren bekommst, umgehen können. Vor drei Jahren am ESAF in Zug waren Reichmuth und Giger in meinen Augen die zwei traurigsten Beispiele dafür. Oftmals machen sich die Athleten auch selber Druck, in dem sie an den guten Leistungen des Sommers anknüpfen möchten. Ich bin überzeugt, dass keiner von den Königs-Kandidaten gleichgültig und in absoluter Ruhe an die Vorbereitung geht. Man muss sich diese Situation eher vorstellen wie ein Rennpferd im Starthäuschen.

 

Wer es aber schafft, im Eidgenössischen Tag für Tag und Gang für Gang zu nehmen, wird bereits im Vorteil sein. Wer es schafft, während des Kampfes mit voller Freude zu schwingen und mit dem Herzen und dem Gefühl im Sägemehl zu stehen, noch mehr. Einer wird es schaffen, dass an diesen zwei Tagen einfach alles stimmt: Die körperliche Verfassung, die Kondition, die Kraft, die Wettkampfübersicht, das Wettkampfglück, die technische Raffinesse, der Teamspirit, die familiären und freundschaftlichen Umstände und auch die mentale Stärke. Einer wird über sich hinauswachsen können und sich selber nicht mehr kennen. Einer wird einfach funktionieren und schwingen, als gäbe es kein morgen. Einer wird es schaffen: Der neue König. Und dann wird er da sein, auf den Schultern seiner Klubkameraden.

 

In diesem Moment werde ich zum x-ten Mal an diesem ESAF Hühnerhaut haben, mein Herz wird fast aus meiner Brust springen und meine Atmung wird so oberflächlich sein, als würde ich selber in der Mitte der Arena stehen.

 

Denn die Stimmung vor und während dem Schlussgang wird unheimlich sein. Unheimlich ruhig. Keiner redet, die Luft ist so energiegeladen wie sonst gar nie – bis zum Moment, wo die Schultern des Gegner ins Sägemehl gedrückt werden. Die Energie wird sich schlagartig entladen, die Leute werden aufspringen, sie werden jubeln, klatschen und lachen. Auch ich werde mich für den König freuen und ihm zujubeln, egal wie er heisst und woher er kommt.

 

 

 

 

 

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